Freitag, 21.10.2016, 19:30 – 20:30 | Vortrag/Präsentation
Hallescher Saal
Anti-demokratische Inlandsgeheimdienste, unkontrolliertes V-Mann- Unwesen, Nazi-Terror-Szene, rassistische Ermittlungen und Staatsversagen: Zwingende Konsequenzen aus dem NSU-Komplex
Seit vielen Monaten tritt der Münchener NSU-Prozess auf der Stelle. Auch nach den medial geradezu hysterisch gehypten und dann so dreisten und banalen Aussagen der beiden Hauptangeklagten kurz vor dem Jahresende 2015, nach über 60 unverschämt auftretenden Zeug_innen aus der deutschen Nazi-Szene und ständigen Ausfällen von Prozesstagen bleibt es auch nach über 280 Prozesstagen schwierig, das Verfahren vor dem Oberlandesgericht (OLG) München einzuschätzen, mit dem Geschehen außerhalb des Gerichtssaals in Beziehung zu setzen und ein Ende mit einem Urteil abzusehen. Bizarre Ungleichzeitigkeiten des Innen und Außen des Prozesses charakterisieren die aktuelle Entwicklung: beantwortet jedoch sind die allerwenigsten Fragen vom Beginn des Prozesses, geklärt kaum eine der zahllosen, haarsträubenden Ungereimtheiten, die die Diskussion bestimmen. Gesellschaftliche und politische Konsequenzen spielen im Alltag vor Gericht und in den (unterdessen ELF) Parlamentarischen Untersuchungsausschüssen so gut wie keine Rolle. Im Gegenteil, die Zuspitzung „Dem Inlandsgeheimdienst konnte nichts besseres passieren als der NSU“ ist so gültig wie am ersten Tag nach dem Aufliegen des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU).
Hinter dem Agieren des terroristischen NSU und seines wohl Hunderte Personen umfassenden Unterstützer_innen-Netzwerks öffnete sich das Panorama des wohl größten Geheimdienstskandals der Geschichte der BRD und eines unvorstellbaren behördlichen Rassismus‘ in den Mordermittlungen. Gegen die Familien und das soziale Umfeld der Opfer und die Ermordeten selbst wurde über Jahre mit kruden Vorwürfen und rassistischen Anschuldigungen ermittelt. Für die betroffenen Familien eine bis zu einem Jahrzehnt währende Demütigung, ohne dass je auch nur ansatzweise Spuren ins Nazi-Milieu verfolgt worden wären. Wie weit staatliche Verstrickung in das Geschehen gegangen ist, ist bis heute nicht im Geringsten geklärt, im Gegenteil: ein beispielloser Vertuschungs- und Obstruktionsskandal der unter Verdacht stehenden Behörden (Polizei, Inlandsgeheimdienst „Verfassungsschutz“, Bundesnachrichtendienst (BND), Militärischer Abschirmdienst (MAD) usw.) überschattet selbst die Aufklärungsbemühungen Parlamentarischer Untersuchungsausschüsse (im Bundestag I + II, in den Landesparlamenten von Thüringen I + II, Sachsen I + II, Hessen, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Bayern und Brandenburg) und des NSU-Prozesses vor dem Oberlandesgericht in München (seit 6.5.2013). Da werden Informationen vorenthalten und manipuliert, Akten geschreddert oder zurückgehalten und eine Aufklärung des Komplexes der Nazi-Informant_innen (sog. V-Leute) hintertrieben. Viele ungeklärte Fragen und haarsträubende Ungereimtheiten sind nach wie vor offen. Welche nationalen Netzwerke mit dem und internationalen Verbindungen zum NSU nachweisbar sind, ebenso.
Aber auch eine kritische und linke Öffentlichkeit hat von dem mörderischen Agieren des NSU keine Notiz genommen und sich von den Medien, die die Polizeiversionen ungeprüft und auflagensteigernd skandalisiert übernahmen, den Bären der kriminellen Machenschaften im „Ausländermilieu“ aufbinden lassen: niemand hat gegen die Etikettierung der grausamen Hinrichtungen als „Döner-Morde“ je lautstark protestiert oder – außer den Betroffenen – auch nur Zweifel angemeldet. Auch nachdem in Dortmund und Kassel, nach der Ermordung des Kioskbesitzers Mehmet Kubaşık und des jungen Internetcafé-Betreibers Halit Yozgat am 4. bzw. 6. April 2006, tausende Menschen migrantischen Hintergrunds unter dem Motto „Kein 10. Opfer“ demonstrierten, wachte die Öffentlichkeit – mit den rassistischen Erklärungen offenbar einverstanden – nicht auf.
Immernoch verhalten und erst langsam artikuliert sich ein Aufschrei, der all das nicht mehr zu akzeptieren bereit ist und beginnt, eine öffentliche Diskussion der Skandale, des behördlichen und gesellschaftlichen Rassismus und der enormen Gefahren für das Gemeinwesen, die von den unkontrollierbaren (Inlands-)Geheimdiensten ausgehen, zu erzwingen. Zu dieser Diskussion soll der Vortrag von Friedrich Burschel beitragen.
Friedrich Burschel ist Referent zum Schwerpunkt Neonazismus und Strukturen/Ideologien der Ungleichwertigkeit bei der Akademie für Politische Bildung der Rosa Luxemburg Stiftung in Berlin. Er ist akkreditierter Korrespondent des nicht-kommerziellen Lokalsenders Radio Lotte Weimar im NSU-Prozess und Mitarbeiter des Internetprojektes NSU-Watch (nsu-watch.info). Seine Audio- und Printbeiträge zum Prozess und zum NSU sind auf dem Antifra-Blog http://antifra.blog.rosalux.de oder auf der RLS-Homepage http://www.rosalux.de/index.php?id=24495 zu finden.
Die Veranstaltenden behalten sich vor, von ihrem Hausrecht Gebrauch zu machen und Personen, die neonazistischen Parteien oder Organisationen angehören, der Neonazi-Szene zuzuordnen sind oder bereits in der Vergangenheit durch rassistische, nationalistische, antisemitische oder sonstige menschenverachtende Äußerungen in Erscheinung getreten sind, den Zutritt zur Veranstaltung zu verwehren oder von dieser auszuschließen.